Classicum – Latinum – Graecum

Wilhelm von Humboldt und PISA –

Europa wächst zusammen. Die Welt wird zum „global village“. Dafür brauchen wir moderne Fremdsprachen in unseren Schulen. Es ist ein Beitrag für den globalen Dialog und für den Frieden.

Für unsere Schulen heisst dies: Sprachenvielfalt ist gefragt. Nicht jede Sprache muss von den Lernenden perfekt beherrscht werden. Was für die modernen Sprachen gilt, gilt auch für die klassischen Sprachen.

Das „Haus Europa“ hat eine gemeinsame sprachliche Geschichte. Sie zeigt sich im Fortwirken der beiden „Schlüsselsprachen Europas“ Latein und Griechisch in allen Sprachen Europas.

Für die Allgemeinbildung bietet sich ein „Basiskurs Klassische Sprachen“ an. Eine solche Form wird auch in anderen Ländern praktiziert. In Frankreich dauert solch ein Kurs nur 1 Jahr.

Das „Classicum“ bzw. ein „Basiskurs Klassische Sprachen“ (ca. 1-2 Jahre Wahlfach) ist besser geeignet, um sprachliches und kulturelles Allgemeinwissen zu erwerben, als wenn man viele Jahre nur Latein lernt. – Auch wer jahrelang Latein gelernt hat, steht bei vielen Fremdwörtern aus Wissenschaft, Literatur, Kunst, Mythologie, Medizin etc. wie der berühmte „Ochs vorm Berg“. Denn sie kommen aus dem Griechischen.

Wer sich den Luxus sprachlicher und kultureller Allgemeinbildung in puncto alte Sprachen gönnen will, tut besser daran: Lieber beide klassische Sprachen in bescheidenem Maße kennen lernen als nur eine davon in extenso. Mit Latein allein steht man auf einem Bein. Mit zwei kürzeren Beinen hat man einen besseren Stand als mit einem langen – und einem, das fehlt! Oder nehmen wir ein anderes Bild: Nur mit zwei Flügeln kann der Vogel fliegen.

Das langjährige Lateinlernen mit dem Ziel des Latinums ist fragwürdig geworden. Die meisten europäischen Länder kennen unser zeitaufwändiges Latinum überhaupt nicht. Sie begnügen sich mit einer kurzen Einführung. Nirgendwo sonst auf der Welt lernen so viele Schüler so viel Latein wie in Deutschland. Nochmals in aller Klarheit: Ich liebe Latein, und ich befürworte das Lateinlernen. Doch ich kritisiere das Latinum.

Das Latinum ist  ungerecht

Die innerdeutsche Latinums-Praxis ist ungerecht: Die Anforderungen des Latinums schwanken von Bundesland zu Bundesland beträchtlich. Sodann: Das Latinum benachteiligt die deutschen Studierenden. Denn die Statistik zeigt: die Hälfte der deutschen Abiturient/innen mit Latinum haben in ihrer Schulzeit außer Englisch keine weitere lebende Fremdsprache gelernt. Das ist m.E. zu wenig für ein zusammenwachsendes Europa und eine globale Welt. Die EU-Richtlinien zählen Latein nicht einmal zu den Fremdsprachen; die Statistik zum Bildungswesen der EU rechnet Latein der Rubrik Sonstiges zu.

Es gibt mittlerweile genügend Institute und Universitäts-Kurse, die das „Latinum in den Semesterferien“ anbieten. Wer also das Latinum benötigt, kann es auch auf diesem Wege erwerben. Die Zahl derer wird zunehmen, die diese leichtere und schnellere Variante wählen. Latein wird als Schulfach nur überleben, wenn es sich in Zukunft nicht als Sprache, sondern als Fach der kulturellen Allgemeinbildung versteht.

Die Griechen haben unsere Kultur mehr geprägt als die Römer. Die Wiege Europas steht in Griechenland, nicht in Rom. Sicher, Latein war zwar über viele Jahrhunderte die gemeinsame Sprache Europas. Aber die Griechen schenkten Europa die Seele.

Viele der typischen Kulturwörter und “Internationalismen” kommen aus dem Griechischen. Beispiele: Musik, Musen, Theater, Orchester, Chor, Schule, Poesie, Harmonie, Lyrik, Mythos, Drama, Eros, Epos, Theorie, Praxis, Basis, Methode, System, Logik, Mathematik, Physik, Atmosphäre, Philosophie, Philologie, Ethik, Theologie, Geometrie, Arithmetik, Architektur, Astronomie, Gastronomie, Anatomie, Therapie, Bibliothek, Ökonomie, Ökologie, Technik etc.

Das Classicum ist sinnvoller als das Latinum

Die Griechen haben Europas große Werte geschaffen. Als Gegenpol zu den Monarchien und Theokratien Asiens und Ägyptens, mit ihrem Luxus, Reichtum, Verschwendung und Verachtung des Individuums, entwickelten die Griechen die Ideen der Demokratie und des freien Dialogs. Sie entwickelten das philosophische und wissenschaftliche Denken, die Ideale der Gerechtigkeit, gemäßigten Lebensart und der humanen Bildung. Kurz: Sie schufen die großen Ideen Europas. – Erst die Begegnung mit den Griechen formte die Sprache der Römer zur Kultursprache, zur Literatursprache und zur späteren Weltsprache Latein in ihrer Schönheit und Ausstrahlung. – Politisch und philosophisch drehten die Römer dagegen später das Rad der Geschichte rückwärts: Römischer Cäsarenwahn, römisches Machtstreben und römischer Zentralismus gefährdeten Jahrhunderte lang die Entwicklung der Humanität in Europa. Erst die Wiederentdeckung der griechischen Antike und ihrer Ideen im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance erlöste Europa. Erst die Neuentdeckung der Griechen formte das neue Denken der Aufklärung und der Neuzeit.
In anderen Ländern, z.B. in Frankreich, gibt es Einführungskurse in die Klassischen Sprachen seit langem. Das Ziel ist: Die vielen Wörter und Wendungen besser kennen zu lernen, die aus dem Lateinischen und Griechischen in die heutigen modernen Sprachen gekommen sind. Der „Besuch im Sprachmuseum“ soll zeigen, woher und wie die vielen gemeinsamen Wörter in unsere heutigen Sprachen gekommen sind.

In einem ost-erweiterten Europa ist der “Basiskurs Klassische Sprachen” – als Wahlkurs oder Wahlpflichtfach – ein hochinteressantes Modell für weiterführende Schulen oder in der Erwachsenenbildung: Die Länder Westeuropas haben mehr Beziehung zum Lateinischen, die Länder Osteuropas haben stärkere Affinität zum Griechischen, aus sprachlichen, historischen und geographischen Gründen.

Das Classicum ist besser für die kulturelle Integration Europas

Der Basiskurs Klassische Sprachen schlägt eine Brücke von West nach Ost. Er ist besser für die innereuropäische Integration.

Den Luxus eines humanistischen Gymnasiums darf und soll sich ein Land wie Deutschland, dessen Kultur- und Kunstlandschaft so sehr geprägt ist von der Antike, weiterhin leisten. Doch sollte dabei das Fach Latein gekoppelt sein mit möglichst vielen Vernetzungen zu modernen Sprachen, und es sollte mindestens eine weitere lebende romanische Sprache als Wahlfach gelernt werden.

Dies gilt auch für Griechisch: Der altgriechische Unterricht sollte zugleich als Einführung ins Neugriechische durchgeführt werden: durch Erlernen der altgriechischen und neugriechischen Aussprache, durch Lernen neugriechischer Wörter, durch Exkursionen nach Griechenland. Der erleichterte Zugang zum Neugriechischen schenkt so den Abiturienten/innen des Humanistischen Gymnasiums die Chance, eine selten gesprochene europäische Sprache der EU zu sprechen und ggf. weiter auszubauen. – Damit sind die alten Sprachen auch für die Abiturienten des Humanistischen Gymnasiums keine Sackgasse, sondern der Weg zu einem besonders vertieften Verständnis der Sprachen und Kulturen Europas.

Wilhelm von Humboldt (1767-1835) würde heute sagen: Classicum statt Latinum!
Der Schöpfer des Humanistischen Gymnasiums in Deutschland forderte: Der Mensch soll durch Bildung zum wahren Menschen werden. Er stellte dem kirchlich geprägten Schulwesen in Deutschland und den „Lateinschulen“ mit der Monopolstellung des Lateinischen ein Gegenmodell gegenüber: die „humanistische Bildung“ soll sich nicht nach den Forderungen von Staat und Kirche richten, sondern am antiken Tugendkanon mit dem Ideal der Menschlichkeit, der Humanität, orientieren. Bildung soll sich nicht dem direkt verwertbaren Nutzen unterordnen. Bildung solle der Entfaltung des Individuums und der Menschheit insgesamt dienen, so Humboldt. Er fand in der antiken Kultur, vor allem bei den Griechen, eine Richtlinie für das Ideal zur „allgemeinen Menschenbildung“ und zur „allgemeinen Charakterschulung“. Im Geiste der Aufklärung forderte er eine Rückbesinnung auf alte Tugenden. Er wollte eine Erziehung nach antikem, insbesondere nach griechischem Ideal. Seine Vorstellung: Ein rundum gebildeter Mensch sollte möglichst mehrere Sprachen, alte wie neue, lernen können. Er dachte an eine Lernzeit von ca. 2-3 Jahren pro Sprache. Sein Ziel war nicht die Perfektion, sondern die Vielfalt.

Das Classicum ist das bessere Latinum!

Es ist eine Verfälschung des Anliegens von Wilhelm von Humboldt, wenn heute Verfechter der Humanistischen Bildung mit Zähnen und Klauen ausgerechnet das Lateinische verteidigen. – Heute würde Wilhelm von Humboldt die Erziehungssysteme der Welt vergleichen – PISA weltweit – und die besten Ansätze kombinieren. Das Kennenlernen vieler moderner Fremdsprachen wäre ihm ein Herzensanliegen. Aus Liebe und Respekt für die Menschheitsfamilie, als Basis für den globalen Dialog, und als Grundlage des Friedens. Aber uns Europäern würde er sagen: Befasst Euch auch ein wenig mit Latein und Griechisch, wenigstens in bescheidenem Maße, denn da findet Ihr Eure Wurzeln, Euren Anfang, da findet Ihr das, was Euch zu Europäern formte! Im Sinne von v.Humboldt könnte man sagen: Das Classicum ist das bessere Latinum!

Fazit:

Ein „Basiskurs Klassische Sprachen“ ist eine sinnvolle Alternative.
Das Classicum ist für viele sogar sinnvoller als das Latinum. Das Latinum bedeutet für viele Last, Hürde und Bürde. Es ist für viele zu beschwerlich, der Inhalt entbehrlich.

Das Classicum ist eine schöne Alternative. Es bietet Erfolgs- und Aha-Erlebnisse in großer Fülle. Es befriedigt Wissensdurst, Wissenslust und Entdecker-Freude. Es steht für geistige Bereicherung und Horizonterweiterung. Das Classicum ist nicht Last und schweres Gepäck, sondern schmückendes Band für die Jugend Europas, in Ost und West.

Das Classicum steht für Lernökonomie und Effizienz: Viel Neues kennenlernen in überschaubarer Zeit. Es kann Interesse wecken für Vertiefung und Aufbau. Wer weiter lernen will, kann dies tun, muss aber nicht.

Das Classicum fördert sprachgeschichtliches und sprachübergreifendes Denken. Es schafft einen Einblick in den philosophischen und wissenschaftlichen Hintergrund Europas, und es schafft europäische Identität und europäisches Heimatgefühl.

Menschen, die Latein und Griechisch in einem für sie sinnvollen Maß kennen gelernt haben, werden auch gute Botschafter derjenigen Ideen sein, die hinter den klassischen Sprachen als eigentliches Bildungsziel stehen:

– Freude an Wort und Text
– Freude am geistigen Austausch
– Freude am Nachdenken und Reflexion
– Freude an der Idee der Humanität in Wort und Tat
– vielseitiges Wissen, Verstand und reifes Urteilsvermögen,
  wurzelnd in der Tradition, offen für die Gegenwart
  und handlungsfähig für die Zukunft.